Politschnipsel 2 – „Moderner Staat“, Dez. 2021
Rot-Grün-Gelb statt Rot-Gelb-Grün – Die als Aufbruch getarnte Geschäftsfortführung
Bei Rot nicht fahren zu dürfen, ist in Deutschland nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch in der Politik allgemein geläufig. Das ändert auch der Vertrag der Ampelkoalition erwartungsgemäß nicht. Verändert ist nur, sich nicht mehr bei Gelb fahrbereit zu machen, um dann bei Grün Gas geben zu können, sondern genau umgekehrt sich bei Grün bereit zu halten, um dann bei Gelb Gas zu geben. Verkürzt und irreführend wäre dennoch, den Koalitionsvertrag als reines Werk der FDP misszuverstehen, denn in der Ampel-Koalition treffen sich politische Akteure, die im Kern sich näher sind, als sie den Wähler*innen verraten wollen. Zumal, und mit diesem Etikettenschwindel muss jeder Beobachter des Politbetriebs mehr oder weniger seit Gründung der SPD rechnen, die SPD nie tiefrot war und spätestens seit 1959 (Godesberger Programm) mit der politischen Farbe Rot nur noch in homöopathischen Dosen nach Schütteln und Rühren zu tun hat.
Nach Kurzanalyse der Präambel des Koalitionsvertrages (siehe Politschnipsel 1) 1 verdient das zweite Kapitel des Koalitionsvertrages Aufmerksamkeit, dem die Ampel eine vollmundige Überschrift verpasst hat, die einer Triggerorgie gleichkommt. „II. Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen“. 2 Ein Aufbruch, das sei vorweggenommen, wird in diesem Kapitel keineswegs beschrieben. Modern, digital und innovativ sollen Staat und Gesellschaft sein, demnach also nichts mehr als das kapitalistische Geschäftsmodell ohnehin wegen seiner inneren Gesetzmäßigkeiten fortwährend betreiben muss. Wer wollte, konnte dies bereits vor über 170 Jahren wissen. 3
Auf 17 Seiten ist nahezu alles in Begriffskaskaden versammelt, was der ideelle Gesamtkapitalist (Staat) in der aktuellen Phase (welt-)kapitalistischer Entwicklung idealerweise zu leisten hat. Die verkündeten Absichten langweilen, weil sie zu erwarten waren. (Neo-)Liberale Versatzstücke in jeder Zeile, ob nun vorrangig als direkte Umsetzung von Kapitalinteressen (FDP) offen propagiert oder nachrangig in restsozialdemokratischer oder grün-ökologischer Verkleidung daherkommend – es ist das zu erwartende Elend der politischen Koalitionskräfte, das im zweiten Kapitel des Ampel-Koalitionsvertrages dokumentiert ist.
„Wir haben Lust auf Neues“ lautet der Popsong der in der Ideologie leicht unterschiedlich gefärbten Koalitionäre. Es ist aber das Alte, worauf sie Bock haben und haben müssen, nämlich die immerwährende Umwälzung der Verhältnisse zum jeweilig geschmeidig durchzusetzenden Haupt- und Selbstzweck des demokratischen Kapitalismus – sprich: profitable Kapitalverwertung.
Vorausschauendes Handeln, Kooperation des Staates mit Wirtschaft (i.e. Kapital) und sogenannter Zivilgesellschaft (i.e. gebildete, kritisch-zustimmende Staatsbürger), „Transparenz und Teilhabe“ (i.e. Einbindung von Wähler*innen in staats- und kapitalnotwendige Entscheidungen), mehr „Tempo“ in Entscheidungen und Umsetzung, deshalb „modernisieren, entbürokratisieren und digitalisieren“ (i.e. Verkürzung der Kapitalumschlagszeit bzw. Beschleunigung der Kapitalzirkulation) „mit Glasfaser und neuestem Mobilfunkstandard“. Der Staat wird deshalb „technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft befördern“. Es ist ermüdend, all diese Triggerbegriffe aus dem Arsenal moderner BWL- und VWL-Seminare zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft allein in der Einleitung zum zweiten Kapitel lesen zu müssen, da kann auch keine Spannung mehr erzeugen, wie man an manchen Sätzen erkennen kann, welche Partei welchen Begriff oder welchen Satz in den Verhandlungen untergebracht hat. Dennoch werden Parteigänger*innen und harmonistisch-optimistische Wählergruppen allerlei Hinweise im Koalitionsvertrag finden, die sie für sich als mögliche Versöhnung des Sozialen mit dem Kapitalismus (SPD-Anhänger) oder als Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie (Anhänger der Grünen) oder als Innovationsschub für die Unternehmer (FDP) interpretieren.
Die Bewusstseinslage im Spätkapitalismus 4 ist für derartige Interpretationen günstig, sodass die völlige Abkehr von Bedürfnissen und Interessen v.a. der lohnabhängigen Wähler*innen gar nicht mehr als solche erkannt werden, wie z.B. in folgendem Satz gegen Ende der Einleitung des zweiten Kapitels: „Durch bessere Rahmenbedingungen für Hochschule, Wissenschaft und Forschung wollen wir den Wissenschaftsstandort kreativer und wettbewerbsfähiger machen. Wissenschafts- und Forschungsfreiheit sind der Schlüssel für kreative Ideen, die dazu beitragen, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.“
Der Staat als Sach(ver)walter des G-W-G‘ 5
Sucht man unter der im zweiten Kapitel nach der Einleitung folgenden Überschrift „Moderner Staat und Demokratie“ das versprochene Neue, findet man erst einmal wortgetreue Wiederholungen der Einleitung, bis man hinsichtlich angestrebter „Verwaltungsmodernisierung“ auf den zumindest mir bisher unbekannten Begriff „Silodenken“ stößt. Und schon ist das Neue da, worauf die Ampel-Koalition ganz heftig Lust hat. Wenn das nicht modern ist. Nur, nachdem ich recherchiert habe, stellt sich heraus, dass „Silodenken“ als Begriff aus dem gleichen BWL-Arsenal stammt, aus dem die Koalitionäre offensichtlich insgesamt fleißig abgeschrieben haben, denn „Silodenken“ heißt nichts anderes als borniertes Denken in Unternehmensabteilungen, die sich von anderen Abteilungen abschotten, anstatt mit ihnen zu kooperieren und deshalb nicht zum bestmöglichen gemeinsamen Ergebnis kommen. 6 Dieses „Silodenken“ wollen die Koalitionäre überwinden, exakt so wie in Unternehmen. Staat als Unternehmen, so wird’s was, denken die Koalitionäre. Exakt die kapitalistischen Strukturen und Prozesse, die zur extremen sozialen Ungleichheit in Deutschland und weltweit sowie zur globalen ökologischen Krise (Klimawandel u.Ä.) geführt haben, sollen auf der Ebene der Politik und der Verwaltung (Exekutive) imitiert werden, denn das, was ökonomisch zwar krisenhaft verläuft, gilt dennoch nach wie vor, weil das Bewusstsein der Herrschenden das herrschende Bewusstsein (auch der Beherrschten und der politischen Klasse) bestimmt.
Deshalb wollen sie auch „proaktives Verwaltungshandeln“ fördern, wobei „proaktiv“ eines dieser wohlfeilen Schlagwörter ist, das Modernität signalisieren soll, letztlich aber nur die Sprache selbst beschädigt. Die Sprachpeinlichkeiten des Koalitionsvertrages nehmen keine Ende. Jeder Satz dieses wortreichen und inhaltsschwachen, weil nahezu ausschließlich die kapitalistischen Notwendigkeiten umschreibenden Koalitionskonzepts verdiente wegen seiner Aussageinsuffizienz längere kritische Abhandlungen. Gleichzeitig erlahmt aber die Motivation des Kritikers angesichts derartig unterbestimmter Ausführungen im Koalitionsvertrag sehr schnell. Salopp formuliert, könnte man auch sagen, dass kritisches Treten auf eine Sprachleiche, die semantisch wie semiotisch Selbstmord begangen hat, eine moralisch-ethisch fragwürdige Handlung ist, die niemand gerne ausführen sollte. Allerdings kann man solchen kapitalistisch sozialisierten Sprachakrobaten, wie sie sich zum Teil bereits in der abgelösten GroKo und nun noch mehr in der kommenden Ampelkoalition tummeln, weder mit harscher Kritik noch mit vornehmer Zurückhaltung zu Leibe rücken. Sie sind lernresistent, auch wenn sie im aktuellen Koalitionsvertrag selbst über den „lernenden Staat“ räsonieren.
Deshalb nur noch einige Anmerkungen zur beabsichtigten Modernisierung, Digitalisierung und Förderung von Innovationen, weil bereits nach kaum mehr als einer Seite über den modernen Staat die Energie des kapitalismus- und staatskritischen Beobachters fast auf den Nullpunkt gefallen ist, weil im Kern schon alles klar ist.
„Von der Leitung der Ministerien und den Führungskräften im Öffentlichen Dienst erwarten wir, dass sie eine moderne Führungs- und Verwaltungskultur vorantreiben und für digitale Lösungen sorgen. Eigeninitiative und Mut der Beschäftigten müssen wertgeschätzt und belohnt werden.“ Nun ja, kann da nur noch angemerkt werden.
„Wir fördern und vereinfachen den Personalaustausch und die Rotation zwischen verschiedenen Behörden, zwischen Bund und Ländern sowie zwischen Verwaltung und Privatwirtschaft. Die Einstellungsvoraussetzungen flexibilisieren wir in Richtung praktischer Berufserfahrungen und stärken das Instrument des Altersgeldes.“ Das ist wohl Teil der „neuen“ Transparenz, den Personalaustausch nicht nur zwischen staatlichen Instanzen, sondern auch zwischen Staat und Wirtschaft zu fördern. Die unaufhebbare Einheit von Kapital und Staat im demokratischen Kapitalismus soll transparent als moderne Neuigkeit in den Köpfen implementiert werden, ohne sie als solche zu begreifen. Insofern ist den Ampel-Koalitionären zu danken, sollte dieses Faktum nunmehr auch allgemein bewusst werden. Aber, die Ampel will das nur transparent machen, wenn es ihr gelingt, den Wähler*innen einzureden, die Einheit von Staat und Kapital sei zu ihrem Besten. Der Koalitionsvertrag ist ein erster Schritt dahin.
„Lebendige Demokratie“ (S. 9 f) soll durch ein „Digitales Gesetzgebungsportal“ eine Art Forum zur Gesetzeskommentierung, beratende Bürgerräte, verständlichere Gesetze und Stärkung des Petitionsverfahrens erreicht werden. Heißt, ideelle Aufwertung und institutionalisierte Einbindung der Staatsbürger für systemnotwendige Entscheidungen.
„Transparenz“ (S. 10 f) soll durch Nachschärfen des Lobbyregistergesetzes, erweiterte Anhörung von Interessenvertretungen, Teilnahme am „Open-Government-Partnership“, an dem bereits seit 2016 das Bundesinnenministerium teilnimmt 7, durch Maßnahmen gegen Abgeordnetenbestechung, leichte Verschärfung des Veröffentlichungszwangs des Parteiensponserings und der Parteispenden, „mehr digitale Beschlussfassungen“, verstärkte Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen u.Ä. erreicht werden. Die Grünen durften sich in dieser Passage des Koalitionsvertrages austoben. Aber, und das muss klar bleiben: „Für Gesetzentwürfe der Bundesregierung und aus dem Bundestag werden wir Einflüsse Dritter im Rahmen der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben und bei der Erstellung von Gesetzentwürfen umfassend offenlegen (sog. Fußabdruck). Die Regelung findet ihre Grenzen in der Freiheit des Mandats.“ Art. 38 GG ist nun mal die geheiligte Maxime parlamentarisch-repräsentativer Demokratie, in der der Abgeordnete nicht an Aufträge und Weisungen gebunden, sondern nur seinem Gewissen unterworfen ist, was auch immer das Gewissen sein mag und wie und woran es auch immer orientiert ist 8. Über die grundsätzliche (!) Orientierung der Abgeordneten jedoch geben meine Darlegungen hier genügend Aufschluss.
„Föderalismus“ (S. 11) soll, völlig überraschend, auch transparenter und effizienter werden. Falls eine Leserin oder ein Leser während des Lesens dieser erneuten Plattitüde des Koalitionsvertrages ein fast schon ergebenes Stöhnen des Schreibers im Hintergrund zu hören glaubt, ist das keine Halluzination, sondern konkrete Einfühlung.
Das „Wahlrecht“ (S. 11 f) soll verändert werden. Der Bundestag soll verkleinert werden (weniger Überhangmandate). „Päritätische Repräsentanz“ von „Frauen und Männern“, Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre, Begrenzung der Kanzlerzeit und Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre sind weitere Ziele.
Zwischenbemerkung: Ich sehe schon seit einigen Abschnitten meiner Ausführungen in Überschärfe das Kopfschütteln einiger Leser*innen, die in ihrer durchaus kritisch orientierten Mitmach-Gutwilligkeit denken, wie abwegig es ist, etwas gegen Transparenz, Bürgerbeteiligung, Digitalisierung, Absenkung des Wahlalters usw. usw. zu haben. Nur, das habe ich gar nicht. Ihr könnt und solltet den Kopf ganz ruhig halten, denn es ist doch offenkundig, dass hier eine Koalition der politischen Klasse angesichts der drastischen Krise auf nahezu allen Ebenen ihre Mission in einer Veränderung der Methoden, nicht aber in einer Veränderung der Grundziele und Grundinhalte des herrschenden Systems sehen. Klar, das ist auch von einer SPD-Grünen-FDP-Koalition nicht zu erwarten, aber es ist wichtig, sich das bewusst zu machen.
Und deshalb nur noch kursorische Anmerkungen zu den folgenden Unterkapiteln.
„Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung“ (S. 12 ff) steht auf dem Programm. „Digitale Innovationen und digitale Infrastruktur“ (S. 15 ff) sollen gefördert bzw. soll ausgebaut werden. An den folgenden Einzelheiten z.B. zur digitalen Infrastruktur und zum digitalem Staat, zu digitalen Bürgerrechten, Datenschutz und selbstverständlich zu „Nachhaltigkeit in der Digitalisierung“ (S. 18) wird es heftige zivilgesellschaftliche Diskussionen geben, alle aber unter dem Vorbehalt der geschmeidigen Aufrechterhaltung des Geschäftsmodells.
„Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung“ (S. 19 ff) sollen ebenfalls mit viel „Lust auf Zukunft“ gefördert und entwickelt werden. Die zentralen Sätze sind in die Details der Absichten bzgl. Innovation, Modernität usw. eingebaut und geben in überzeugter Offenheit preis, worum es eigentlich geht.
Der „Wissenschaftsstandort“ Deutschland soll „kreativer, exzellenter und wettbewerbsfähiger“ (S. 19) gemacht werden. „Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt in all ihren Dimensionen sind Qualitätsmerkmale und Wettbewerbsfaktoren im Wissenschaftssystem.“ Es geht nicht um Gleichstellung der Geschlechter oder um völlige Zugangsoffenheit des Wissenschaftssystems für jede Qualifizierte und jeden Qualifizierten, sondern um die Wettbewerbsvorteile eines Wissenschaftssystems, das alle möglichen menschlichen Ressourcen effektiv nutzen kann und soll, also auch z.B. Frauen oder Zugewanderte.
„Mehr Innovationen stärken den Wirtschaftsstandort Deutschland ebenso wie die gesamtgesellschaftliche Entwicklung.“ (S. 20) „Wir wollen ausgewählte Standorte als Leuchttürme unter die Spitzengruppe internationaler Forschungs- und Transferregionen mit jeweils einem inhaltlichen Schwerpunkt bringen.“ (S. 21) „Deutschland hat die Chance, zum international führenden Biotechnologie-Standort zu werden.“ (S. 21) „Um für internationale Talente attraktiv zu sein, werden wir administrative Hürden abbauen und mit einer Plattform die Rekrutierung von internationalen Spitzen-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern unterstützen.“ (S. 23) Solche Sätze erklären sich selbst während des Lesens. Die Ampel-Koalition will den staatlich gestützten deutschen Kapitalismus im globalen Konkurrenzkampf erneuern, also die Kapitalunternehmen bei ihrem ohnehin ständigen Erneuerungsprozess unterstützen.
Unter diesen Voraussetzungen klingt die Überschrift des folgenden Großkapitels (Kapitel III) fast wie eine Drohung, denn es hat die sowohl erwartbare als auch perspektivlose Versöhnung von Ökologie und Ökonomie zum Thema. „Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ (S. 24)
Das wird Thema der Politschnipsel 3 im neuen Jahr werden, während sich der vom Mahner zum Gesundbeter, weil vom Twitterer und Talk-Showprofi zum Gesundheitsminister beförderte Lauterbach mit Boostern und Omikron herumschlägt und während Frau Baerbock als Außenministerin die globale Kapital- und Staatenkonkurrenz über die normale Konkurrenzhärte hinaus mit diplomatiefernen Äußerungen befeuert.
_________________________________________________________________________
1 https://arche-noe.de/2021/11/25/politschnipsel-1-der-koalitionsvertrag-nov-2021/
2 Siehe für alle folgenden Zitate, die nicht anders ausgewiesen bzw. verlinkt sind, S. 8 – 24 im Koalitionsvertrag: https://cms.gruene.de/uploads/documents/Koalitionsvertrag-SPD-GRUENE-FDP-2021-2025.pdf
3 Zitatauswahl aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx/Friedrichs Engels (Erstauflage Februar 1848): „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. […] Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen {8} aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. […] Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. […] Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. […] Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglo- |467| meriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.
Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere {10} Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“ http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm
4 Vgl. hierzu https://arche-noe.de/2021/09/30/zur-bewusstseinslage-im-spatkapitalismus/
5 G-W-G‘ ist die kürzeste Darstellung der kapitalistischen Wertverwertung. Aus Geld (G) als Ausdruck von Wert muss (!) im Kapitalismus mehr Geld (G‘) werden. Trotz aller kaum noch durchschaubaren Transaktionen finanzkapitalistischer Art, die scheinbar Geld aus Geld generieren können (ohne den „Umweg“ über W) muss schlussendlich immer eine ganz bestimmte Ware von Kapitalbesitzern und deren Managern ausgebeutet werden, nämlich die Arbeitskraft als Ware (W). Ausbeutung heißt dabei nicht unbedingt totale Verarmung der ausgebeuteten Arbeitskraft oder gar Vernichtung der Arbeitskraft durch Arbeit (ist jedoch potenziell eine Option), aber Ausbeutung bedeutet, dass die Ware Arbeitskraft, deren Besitzer sonst nichts (oder nur Geringfügiges) haben, was sie kapitalistisch verwerten können, nicht für das bezahlt wird, was sie an Wert(en) herstellt, sondern für ihren eigenen Warenwert. Das ist kein „Beschiss“, sondern Ergebnis eines Machtverhältnisses zwischen Klassen, nämlich der kapitalbesitzenden und der kapitallosen Klasse (Kapitalbesitzer und Lohnabhängige). Der Wert der Ware Arbeitskraft entspricht in etwa den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft, also in Lohn ausgedrückt so viel Geld, wie zur Wiederherstellung der Arbeitskraft unbedingt nötig ist (damit dieses Lohngeld nicht zu niedrig ist, gibt es z.B. Mindestlohn). Die einzelne Arbeitskraft ist die einzige Ware, die während ihres Verbrauchs mehr Wert herstellt, als sie selbst wert ist. Sie produziert/generiert Mehrwert, der von den Unternehmern, die mit den lohnabhängigen Arbeitskräften genau das, nämlich Ausbeutung, unternehmen, eingestrichen wird.
6 Siehe z.B.: https://wiki.hslu.ch/controlling/Silodenken oder https://www.pfi.or.at/blog/wie-schlimm-ist-silodenken/ oder auch https://karrierebibel.de/silodenken/
Neueste Kommentare