Politschnipsel 1 – Der Koalitionsvertrag, Nov. 2021
Die Präambel des Koalitionsvertrages verrät die Absichten
Alle folgenden Zitate sind aus der Präambel des Koalitionsvertrages der kommenden Regierung aus SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP, die nachzulesen sind auf den Websites dieser Parteien. Sie zeigen in üblicher Offenheit – man muss nur auf dem Hintergrund von Kenntnissen lesen können -, was sie beabsichtigen.
https://www.fdp.de/wir-wollen-mehr-fortschritt-wagen (PDF-Download)
https://cms.gruene.de/uploads/documents/Koalitionsvertrag-SPD-GRUENE-FDP-2021-2025.pdf
https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
„Deutschland und Europa müssen angesichts eines verschärften globalen Wettbewerbs ihre ökonomische Stärke neu begründen. Im internationalen Systemwettstreit gilt es, unsere Werte entschlossen mit demokratischen Partnern zu verteidigen.“
Was sonst: Rückhaltlose Zustimmung zum stummen Zwang der Verhältnisse. Realpolitik ist identisch mit Akzeptanz und Befürwortung „verschärften globalen Wettbewerbs“, der durch neu begründete „ökonomische Stärke“ gewonnen werden soll, also durch weitere Verschärfung der Konkurrenz. Einen „Systemwettstreit“ gibt es in dieser Vorstellung nicht mehr ökonomisch, sondern nur noch politisch, denn das ökonomische System ist Kapitalismus und steht gemäß herrschender Ideologie bis in alle Ewigkeit fest. Deshalb müssen „unsere Werte“ mit „demokratischen“ Wertepartnern verteidigt werden, vorrangig mit europäischen Staaten. Dieser Aufruf zur Werte-Verteidigung impliziert eine weitere Verschärfung internationaler Konkurrenz.
„Wir werden die öffentliche Infrastruktur, öffentliche Räume und Netze modernisieren und dafür Planung, Genehmigung und Umsetzung deutlich beschleunigen. Auch die Wirtschaft soll in der Verwaltung einen Verbündeten haben.“
Die Einheit von Kapital und Staat wird vertieft, indem die Kapitalinteressen geschmeidiger und beschleunigt umgesetzt werden sollen. Die Staatsverwaltung ist deshalb ausführendes Organ der Kapitalinteressen. Dem Kapital werden aus Steuergeldern die infrastrukturellen Voraussetzungen für profitable Kapitalverwertung zur Verfügung gestellt.
„Unseren Wohlstand in der Globalisierung zu sichern ist nur möglich, wenn wir wirtschaftlich und technologisch weiter in der Spitzenliga spielen und die Innovationskräfte unserer Wirtschaft entfalten.“
Bekräftigung des Anspruchs, Konkurrenten um „Wohlstand in der Globalisierung“ zu besiegen.
„In die Modernisierung des Landes muss umfassend investiert werden – privat wie öffentlich. Die öffentlichen Investitionen insbesondere in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung werden wir im Rahmen der bestehenden Schuldenregel des Grundgesetzes gewährleisten, Anreize für private Investitionen setzen und Raum für unternehmerisches Wagnis schaffen, um so Wachstum zu generieren.“
Der globalisierte Konkurrenzdruck erfordert „Modernisierung“ durch „Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung. Motivation und Ziel zugleich sind dabei Unternehmensprofite und Wachstum der deutschen Wirtschaft. Die von Kapitalseite geforderte Schuldenbremse wird dabei trotz notwendiger öffentlicher (= staatlicher) Investitionen beachtet (wegen Coronakrise wohl erst ab 2023).
„Wir halten das Rentenniveau stabil, erweitern die gesetzliche Rentenversicherung um eine teilweise Kapitaldeckung und werden das System der privaten Altersvorsorge grundlegend reformieren.“
Anteile der Renten werden offiziell von Entwicklungen des Kapitalmarktes abhängig gemacht, nicht wie bei der Riester-Rente als Zusatzrente zur Rente aus Arbeit bzw. Rentenversicherungsbeiträgen, sondern als Teil dieser Rente aus Versicherungsbeiträgen. Die Rente aus Sozialbeiträgen, also aus Abzügen (Versicherungsbeiträgen) von Löhnen/Gehältern, wird aufgeweicht. Damit wird die gesetzlich verordnete generationsübergreifende Solidarität im Rentensystem geschwächt. Hintergrund ist die drohende Notwendigkeit, die Rentenversicherungsbeiträge erhöhen zu müssen, wenn das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent der vorherigen Löhne/Gehälter sinken soll (was zugesagt wird). Die massive Begrenzung der Lohn- und Gehaltssteigerungen der vergangenen 30 Jahre (zum Zwecke des Standortvorteils in globalisierter Konkurrenz) sowie die v.a. wegen Zunahme der Teilzeitarbeit gesunkenen geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen und das erst deutlich gesunkene und inzwischen nur geringfügig gestiegene gesamte Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen in Mrd. Arbeitsstunden (gegenüber 1991) haben zu einer massiven Begrenzung der Einnahmesteigerung in den Rentenkassen geführt und den Generationenvertrag beschädigt. Die Folgen des Kapitalismus sollen mit Kapitalismus gebändigt werden.
https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61766/lohnentwicklung
https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV3.pdf
https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61711/arbeitszeit-und-arbeitsvolumen
„Die großen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nur in internationaler Kooperation und gemeinsam in einer starken Europäischen Union bewältigen. Wir stehen zur globalen Verantwortung Deutschlands als einer großen Industrienation in der Welt. Der Einsatz für Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Nachhaltigkeit ist für uns unverzichtbarer Teil einer erfolgreichen und glaubwürdigen Außenpolitik. Wir bekennen uns zu unserer humanitären Schutzverantwortung und wollen die Verfahren zu Flucht und Migration ordnen.“
Die globale Konkurrenzfähigkeit des deutschen demokratischen Kapitalismus soll „in einer starken Europäischen Union“ unter Führungsanspruch Deutschlands „als einer großen Industrienation in der Welt“, die sich selbst „globale Verantwortung“ zuspricht, organisiert und verwirklicht werden. Diese Kampfansage an die Welt und die verbündeten Staaten in der EU verdeutlicht den außenpolitischen Anspruch Deutschlands, die kapitalistische Weltordnung prägend mitzugestalten und im europäischen sowie globalen Konkurrenzkampf zu den Siegern zu gehören. Dabei sollen allerlei Aspekte dieses Sieges geordnet werden – von Frieden und Freiheit bis hin zu den Verfahren „zu Flucht und Migration“, wobei Letzteres nicht etwa als Folge exakt des globalen Konkurrenzkapitalismus benannt werden darf, in dem Deutschland vorne bleiben soll, sondern quasi als Naturereignis daherzukommen scheint.
„Die strategische Souveränität der Europäischen Union wollen wir erhöhen, indem wir unsere Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Handelspolitik wertebasiert und als Basis gemeinsamer europäischer Interessen ausrichten.“
Die Kampfansage an die europäischen Verbündeten auf der „Basis gemeinsamer europäischer Interessen“ wird durch den militärischen Aspekt – Stichwort: Sicherheitspolitik – verschärft. Die deutsche Regierung vertritt nicht nur in „Entwicklungs- und Handelspolitik“ ihre ökonomische Macht, sondern strebt unter Vormachtstellung Deutschlands als mit Abstand stärkste Ökonomie in der EU „strategische Souveränität“ der EU, also EU-Streitkräfte an. Die EU soll unter Führung Deutschlands im Neuordnungsprozess der Welt des 21. Jahrhundert eine gewichtige Rolle spielen. Zu diesem Zweck kann es nützlich sein, wenigstens schon einmal die militärische Karte zu zeigen, auch wenn die Bildung europäischer Streitkräfte bis jetzt nicht von großem Erfolg gekrönt ist (zumal einer der beiden Atomwaffenstaaten kürzlich die EU verlassen hat).
https://de.wikipedia.org/wiki/Europaarmee
https://www.baks.bund.de/de/arbeitspapiere/2015/die-europa-armee-pro-und-kontra
https://www.rnd.de/politik/debatte-um-europa-armee-wo-bleibt-sie-brauchen-wir-sie-welche-tuecken-hat-das-projekt-75I6YFLYKBB6DGJMPUY22WVTAY.html
Insgesamt nichts Überraschendes, aber es kann von Vorteil sein, sich zu verdeutlichen, mit welcher Art Regierung es die unterschiedlichen sozialen Klassen in Deutschland in den kommenden 4 Jahren zu tun haben werden.
Leider wird es wohl vorwiegend nur Diskussionen über den Sieger der Koalitionsverhandlungen (derzeitiger Favorit: FDP) und einzelne konkrete Aspekte des Koalitionsvertrages wie Mindestlohn, Ausbau erneuerbarer Energien, Bürgergeld statt Hartz IV (bzw. ALG II), Mietpreisbremse und Wohnungsbauförderung, Steuerpolitik, Pflege-Bonus, Digitalisierung usw. usf. geben, die den zugrundeliegenden Hauptplan vernebeln oder gänzlich aus dem Blick geraten lassen.
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